Handbuch der Atemtherapie – Leseprobe

 

 Handbuch der Atemtherapie

Autor: Wilfried Ehrmann

Leseprobe aus dem 1. Kapitel

Die Universalität des Atems

Über den Atem verbinden wir uns als Menschen, als Lebewesen, als Erdenbewohner. Wenn wir auf der Straße gehen oder im Wald – wir atmen Luft ein, die vielleicht irgendwo in der Welt von einem anderen Menschen ausgeatmet wurde, und die Luft, die wir ausatmen, wird in irgend einen Teil der Welt verblasen und dort von jemandem eingeatmet und so weiter, vom Anbeginn des Lebens bis in alle vorstellbare Zukunft. Die Atemluft ist uns allen gemeinsam, in ihrem Medium bewegen wir uns, über sie tauschen wir uns beständig aus. Die Atemluft gestalten wir mit, und sie gestaltet uns. Wir sind die Luft, die wir atmen. Wir „vermenschlichen“ die Luft und nehmen im Atmen Teil an der Luft dieser Welt (mit all ihren Gerüchen und Düften).

Der Atem verbindet uns mit einem Medium der Kommunikation, mit einem Geflecht des universellen Austausches, in dem wir uns permanent befinden, ob wir es wollen oder nicht. Der Atem ist auch ein Medium der Geschichte, weil er uns die Luft der Erdgeschichte vermittelt. Der Atem ist auch ein Medium der Demokratie und der Gleichheit, weil er allen in gleicher Weise die Luft dieser Erde zur Verfügung stellt.

Therapie des Atems – Therapie durch den Atem

Mit dem Konzept des zum Substantiv erhobenen Atems unterscheidet sich die Atemarbeit von anderen Therapieformen. Die Beobachtung und Beeinflussung der Atmung spielt in vielen therapeutischen Richtungen eine beachtete oder zumindest nebengeordnete Rolle. Doch Atemtherapie im eigentlichen Sinn beginnt erst dort, wo der Atem als solcher erkannt und anerkannt ist und wo ihm die Kraft des Veränderns, Lösens und Heilens zugesprochen wird. Der Kern der Atemtherapie besteht darin, den Atem zur Wirkung zu bringen, ihm einen Raum zu öffnen, in dem er seine heilende Kraft entfalten kann. Die verschiedenen Richtungen und Schulen der Atemtherapie unterscheiden sich nur darin, mit welchen Mitteln und unter welchen Rahmenbedingungen dieser Raum geöffnet wird.

In der Therapie ist der Mensch der Raum des Atems. Es wird ihm ein Weg gezeigt, wie er sich der Kraft, die in jedem Atemzug wirkt, bewusst werden kann, sodass sie sich in ihm als Stütze und Hilfe, als Quelle von Stärkung und Lebensfreude entfalten kann. Das erste Tor, das wir dabei durchschreiten, führt uns dazu, dass wir uns bewusst werden, dass wir atmen. Damit verbinden wir uns mit unserem Atem und über den Atem mit uns selbst. Wenn wir uns im Atmen im Gestalten und Entfalten unseres Selbst – im eigenschöpferischen Lebensvollzug – erfahren, wird uns auf einer tiefen Ebene deutlich, wer wir sind. Diese Selbsterkenntnis ist keine theoretische Reflexion, sondern ist von unmittelbarer Evidenz geprägt und trägt das Siegel des unmittelbar Gewissen, des Unwiderruflichen und Unbezweifelbaren. Auch wenn uns diese Gewissheit wieder verlassen kann, wenn der Vollzug des Atems später wieder in unser Unbewusste zurücksinken mag, bleibt das Tor geöffnet, und Spuren und Fäden dieser Erfahrung zeigen uns, dass wir uns schon verwandelt und erneuert haben – wie winzig diese Veränderung auch sein mag. Mit jedem bewusst auf unser Selbst hin vollzogenen Atemzug errichten wir einen Wegweiser in unser Inneres, der stehen bleibt und darauf wartet, dass sich unser Blick wieder einmal aus Gewohnheiten und Alltagsgeschäften befreit und auf ihn fällt.

Die unmittelbare Evidenz des Selbstvollzuges und der existentiellen Selbstvergewisserung ist die vielleicht wichtigste und grundlegendste Basis therapeutischen Arbeitens überhaupt und der Atemtherapie im Besonderen. Ich atme, also bin ich – diese Gewissheit liegt unserem Leben zugrunde und trägt es. Alles, was Sorgen bereitet, Angst macht, verunsichert und zu zerfallen droht, liegt über dieser Gewissheit wie eine Schutthalde. Doch mit jedem Atemzug habe ich die Chance, die Ablagerungen zu durchdringen und die Einsicht zu gewinnen, dass tief in mir das Leben strömt, gleich, was immer sich an der Oberfläche abspielt, und dass alles, was das Leben sonst noch ausmacht, darauf beruht und davon abgeleitet ist. Dum spiro spero – solange ich atme, hoffe ich: Diese alte Weisheit und Ermutigung wird in der bewussten Atmung belebt und inkorporiert. Alle Dramen des Lebens treten zurück, sobald der Atem bewusst wird, sei es auch oft nur für ein paar Momente. In diesen Momenten setze ich mich in Distanz zu dem, was ich nicht wirklich bin, mache einen Unterschied, und den Dramen ist die Kraft genommen. Mögen mich die neurotischen Gewohnheiten schnell auch wieder zu ihnen zurückführen, kann ich doch ebenso schnell wieder in den Atem zurücktauchen, indem ich ihm meine Bewusstheit schenke. Und so lerne ich mit dem Atem, bewusste Einschnitte vorzunehmen, die mein Leben aus den Schleifen des ewig Gleichen heraus holen und zu einem Prozess von kreativen Veränderungen umgestalten.

„Nirgendwo können wir uns unserer Teilhabe am größeren Leben so bewusst werden als am Atem. So gibt es keine »Übung« zum Weg ohne Beachtung des Atems. Im Atem erfahren wir unmittelbar das Leben in seiner Verwandlungsbewegung. Wenn es uns gelingt, uns des sich im Atem bekundenden und auswirkenden Verwandlungsgesetzes inne zu werden, es in seiner ganzen Bedeutung in uns aufzunehmen und uns ihm bewusst zu fügen, sind wir schon auf dem »Weg«.“ (Dürckheim 1999, S. 144)

Erste Basistherapie

„Was zuerst gelehrt werden muss, ist der Atem.“ So spricht Kung-fu-tse. Im modernen Gefüge der vielfältigen therapeutischen Wege kann diese Weisheit noch immer Bedeutung tragen. Denn im Atem begegnen wir am einfachsten und am natürlichsten uns selbst. Und was ist Therapie anderes als Selbst-Begegnung? Atmend erleben wir uns unmittelbar als Körper-Geist-Einheit. Was ist Therapie anderes als die Wiederherstellung dieser Einheit? Atmend kommen wir in den Moment. Was ist Therapie anderes, als die Bewusstheit im Hier und Jetzt wieder zu erlangen?

Darum kann sinnvoller Weise jeder therapeutische Weg beim Atem und mit dem Atem beginnen. Auch wenn auf dem Weg der Selbsterforschung andere Methoden ihre Wichtigkeit und ihren verdienten Platz haben und ihre heilsamen Wirkungen entfalten sollen, wird der Atem immer mit dabei sein. Er wird jede positive Veränderung mittragen, mitgestalten und widerspiegeln, ob wir uns dessen – als Therapeuten oder als Klienten – bewusst sind oder nicht.

Die Einfachheit des Atems

Der Atem ist eine ganz einfache Form der Selbst-Erfahrung und Selbst-Einsicht. Jeder Mensch ist dazu in der Lage, in nahezu jedem Lebensmoment. Das Bewusstsein auf den Atem zu lenken, heißt, wahrzunehmen, dass der Einatem einströmt und der Ausatem ausströmt. Das ist alles. Diese Einfachheit zu akzeptieren, sich ihr hinzugeben, hat oft eine heilsamere Wirkung als das Verstehen eines komplizierten Zusammenhangs, und es ist in manchem Leid tröstlich, zu ihr zurück zu finden.

Natürlich ist es notwendig und wichtig, dass der therapeutische Prozess in die komplexen Bereiche der verwirrten Gedanken und der verstrickten Gefühle führt. Die Erforschung der Psyche muss auch auf die bedeutungsträchtigen Details, Einzelheiten und Zusammenhänge Bedacht nehmen und darf keine Scheu vor der Vielschichtigkeit und Vieldeutigkeit des Seelenlebens haben. Mit dem Atem aber haben wir ein Mittel zur beständigen Verfügung, das aus den verworrensten Denkschleifen und Reflexionen, Erinnerungsbildern und Interpretationsfiguren zurück in den Körper, zurück in den Moment, zurück in die Einfachheit des Daseins führen kann.

Gerade diese Einsicht ist für viele Menschen therapeutisch relevant: Dass das Leben auch einfach sein darf, dass das Leben auf einer Ebene stimmig und gelungen sein darf, was auch immer sonst noch der Lösung im täglichen Leben oder in der eigenen Geschichte harrt. Und diese Einsicht ist so einfach über den Atem zu vollziehen, dass sie genau deshalb so oft übersehen wird. Ein Aspekt des menschlichen Dramas (und der menschlichen Komödie) mag also darin liegen, dass uns dieses Bewusstsein von der Einfachheit, wie es uns der Atem zeigt, so leicht verloren geht und dass wir uns so schwer tun, es wieder zu erinnern, indem wir es in unser Leben holen und ihm dort einen beständigen und ehrenvollen Platz zugestehen.

Die Atemsitzung

In der Atemsitzung als Kern der Atemtherapie wird der Atem, seine Lebens- und Entwicklungskraft, in sein ursprüngliches Recht gesetzt. Eine Atemsitzung bedeutet das Durchlaufen eines Atemzykluses unter fachlicher Betreuung, in der Zeitdauer von einer Stunde oder länger, gewidmet der vordringlichen Aufmerksamkeit auf den Atem. Wenn der Atem seine Wirkung entfaltet, indem wir ganz bei ihm sind, verändert sich unser inneres Gefüge und setzt sich neu zusammen, sodass wir nicht derselbe oder dieselbe sein können, der oder die wir vorher waren. Manchmal sehen wir das, wenn wir uns nachher in den Spiegel schauen, manchmal sagen es uns andere Menschen, manchmal merken wir gar nichts – und doch haben wir in dieser Erfahrung Neuland betreten und Bereiche in uns fruchtbar gemacht, die bisher brach und unerkannt waren.

Die Atemerfahrung ist nie nur, wie es scheinen mag, ein individueller Prozess, in den sich der Klient hineinbegibt wie in eine innere Reise. Insbesondere in einer therapeutischen Atemsitzung wird deutlich, dass die Atemerfahrung auch eine Beziehungserfahrung ist. Es ist immer ein gemeinsames, geteiltes Atmen, eine Atemerfahrung mit zwei Atmenden. Zwischen dem Erforscher und dem Begleiter besteht eine dichte Interaktion vor allem im nonverbalen Bereich. Darüber hinaus verbindet das bewusste Atmen mit „dem Atem der Welt“. Damit ist eine Erfahrung gemeint, die auftritt, wenn sich der Atem aus seinen Begrenzungen befreit hat und in einen Rhythmus eintaucht, der nicht mehr individuell geprägt ist, sondern geradezu mit allem mitschwingt, was in natürlicher Weise im Kosmos schwingt. Das Pulsieren des Lebendigen hebt hinaus aus der Enge des eigenen Daseins und zeigt, wie alles mit allem verbunden sein kann. Die Teilhabe am atmenden Weltgeflecht ist das große Geschenk des Atems an jeden Menschen, der sich seiner Erforschung widmet.

Atemtherapie im therapeutischen Kontext

Um den Kern der Erschließung des Atems herum haben sich verschiedene Atemschulen entwickelt, die gewissermaßen über unterschiedliche Wege und Tore zum Geheimnis des Atem gefunden haben. Sie bieten unterschiedliches Rüstzeug an, um diese Kraft zur psychischen Heilung zu erschließen. Ihnen gemeinsam ist, wie oben gesagt, dieses „Paradigma des substantivierten Atems“, die Annahme, dass sich der Atmende im Atmen zum Atem hin überschreiten kann, um den Atem als eigenmächtige Kraft zur Entfaltung und Wirkung zu bringen.

Der Atem ist nur im individuellen Tun, über das Vollziehen der Atmung, erfahrbar, ist etwas, das sich öffnet, wenn der Atmende sich seiner Atemtätigkeit bewusst wird, und er öffnet sich dabei als etwas, das schon immer wirkend präsent war. Das bewusste Tun erschließt die Wirklichkeit und Wirkmächtigkeit dieser Kraft für den Tuenden. Dann steigert sich die wandelnde Kraft des Atems und löst Klärungs- und Veränderungsprozesse aus, die alle Ebenen des Selbst erfassen können. Der Atem wirkt also therapeutisch, wenn er mit dem bewussten Erleben verbunden wird. Das ist der Kern, der Atemtherapie von allen anderen Therapierichtungen unterscheidet, die möglicherweise auch auf das Atmen achten und sich der Beeinflussung der Atmung für therapeutische Zwecke bedienen, die aber nicht der Eigenwirkung des Atems vertrauen.

Wird also in verschiedenen Therapierichtungen die Atmung eingesetzt, um damit bestimmte Resultate zu erzielen (Lösung von Blockaden, Ausdruck von Gefühlen, Vertiefung von Erfahrungen und Einsichten etc.), so liegt das Ziel in den Schulen der Atemtherapie darin, den Atem selbst freizulegen. Ist im einen Fall der Atem das Mittel für einen weiteren Zweck, so gilt der Fokus der Arbeit in der Atemtherapie vor allem anderen dem Atem als solchem, weil von seiner Wirkmächtigkeit die entscheidenden therapeutischen Effekte erwartet werden.

Andere Therapieschulen tun sich schwer, den Atem und seine Wirkkraft von ihren Grundannahmen her zu verstehen. In einem strikt naturwissenschaftlichen Weltmodell, das z.B. der Verhaltenstherapie zu Grund liegt, ergibt der substantivierte Begriff des Atems keinen Sinn. Aber auch in den hermeneutisch verstehenden Ansätzen der Psychotherapie (Holm-Hadulla 1997) fehlt das Beschreibungsinstrumentarium für etwas, das einerseits erlebbar und als solches verstehbar ist, mit dem sich aber andererseits etwas Umgreifendes vollzieht, das sich dem Erleben entzieht und es gleichzeitig erst möglich macht. Ein hermeutisches Vorgehen würde gewissermaßen am Atmen entlang erforschen, ohne das umfassende und tiefgehende Erleben des Atems je in den Blick zu bekommen.

Das hat auch damit zu tun, dass der Atem von seinem Wesen her zwischen Körper und Seele schwingt. Er kann nicht anders, als andauernd zwischen bewusster Aktivität („Ich atme“) und unbewusstem Lebensvollzug („Atem geschieht“, „Es atmet mich“) zu oszillieren. Man könnte geneigt sein, zwischen dem körperlich ablaufenden Vorgang des Atmens und dem zu unterscheiden, was man beim Atmen erlebt und was sich im Erleben verändert, wenn sich der Atemfluss verändert. Es würde ja genügen, diesen Zusammenhang zu verstehen und weiter zu forschen, was sich an diesem Erleben verstehen lässt. Aber gerade das Schwingen zwischen dem Erleben des Atems und dem Erleben der Wirkungen des Atems, die Schaukel von Kontrolle und Hingabe, der Tanz von Willen und Geschehenlassen macht das spezifische Heilpotential der Atemtherapie aus.