Die Funktion der Atmung nach der Polyvagal-Theorie

Die Funktion der Atmung nach der Polyvagal-Theorie

Die primäre Steuerung der Atmung geschieht durch das
vegetative Nervensystem. Die Ruheatmung obliegt dem Vagus, die Stressatmung dem
Sympathikus. In Extremfällen übernimmt wieder der Vagus in seiner
unmyelisierten Form die Kontrolle und bewirkt eine maximale Reduktion der
Atmung bis zum Atemstillstand.

„Physiologisch ‚zügelt’ das Atmen den Einfluss des
myelinisierten Vagus auf das Herz. Wenn wir einatmen, wird der Einfluss des
Vagus abgeschwächt, und die Herzrate steigt. Atmen wir aus, wird der Einfluss
des Vagus stärker, und die Herzrate sinkt. Diese simple mechanische Veränderung
beim Atmen verstärkt die beruhigende und allgemein positive Wirkung des myelinisierten
Vagus auf den Körper.“ (Porges, 264).

Die Atmung ist ein untrüglicher Indikator für unseren
inneren Zustand. Sobald die Atmung beschleunigt wird, verstärkt sich auch die
Aktivität des Herzens, und die Stressreaktion setzt ein. Gleichzeitig wird die
Aktivität des sozialen Systems herabgesetzt. Wir werden zunehmend gereizt und
gehen den Menschen in unserer Umgebung „auf die Nerven“. Im Extremfall
erstarren wir oder fallen wir in Ohnmacht und scheiden temporär völlig aus dem
sozialen Netz aus. Deshalb sollten wir auf der Hut sein, wenn wir merken, dass
unsere Atmung ohne körperliche Anstrengung hektisch zu werden beginnt. Sie
signalisiert uns, ob wir uns in einer stressigen Situation noch im Griff haben,
oder ob wir in der Hierarchie der vegetativen Zustände abrutschen. (Porges,
113)

Bei Kleinkindern konnte über die Beobachtung der
respiratorischen Sinusarrhythmie, also der durch die Atmung bedingten
Frequenzschwankungen im Herzschlag-rhythmus, festgestellt werden, dass eine gut
funktionierende Vagus-Bremse, also eine ausgeprägte Fähigkeit, stressbeladene
Situationen gut zu verarbeiten und sich schnell wieder zu beruhigen, eine gute
und verlässliche Prognose sowohl für die Gesundheit als auch für ihr Sozialverhalten
anzeigt.

Die Atmung ist aber auch das einfachste und genialste Tor
zur Rückregulierung des entgleisten Nervensystems. Wenn wir sie entspannen,
entspannt sich der Herzschlag und schließlich schwindet die ganze
Stressreaktion. In der Atemtherapie lernen wir, gewohnheitsmäßige
Spannungsmuster in unserer Atmung zu lösen. Wir lernen, wie wir die Atmung
vertiefen können, und damit, wie wir die Ausatmung ausdehnen können. Wir
trainieren damit unseren Vagus darauf, schneller zu bremsen, wenn der
Sympathikus nicht mehr benötigt wird, also schneller wieder in den entspannten
Normalzustand zurückzuschwingen, wenn die Gefahr vorbei ist. Dadurch sparen wir
Ressourcen und Energie. Sobald wir wieder im Bereich des „smarten“ Vagus sind,
sorgen wir aktiv für unsere Gesunderhaltung und sind zugleich auch angenehmere
Zeitgenossen für unsere Mitmenschen.

Porges schreibt, dass langsames Atmen, verbunden mit
ausdrucksstarker Vokalisation im mittleren Frequenzbereich und in melodischer
Form, wie z.B. beim Singen von Wiegenliedern, das Herz über den myelinisierten
Vagus beruhigt. (Porges 222) Gelingt es also, den vagalen Tonus, die „Kraft“ dieses
Nervensystems zu stärken, so ist das hilfreich bei der Behandlung verschiedener
Störungsformen wie Depressionen, Epilepsie, Autismus und Schizophrenie. All
diese Erkrankungen sind gekennzeichnet durch schnelle und flache Atemmuster,
die anzeigen, dass sich die Herzrate beständig im sympathischen Bereich
befindet, dass also die vagale Bremse nicht mehr oder nur mangelhaft wirksam
ist. Damit ist der Organismus einer Dauerbelastung ausgesetzt, die sich nicht
anders als in Fehlfunktionen niederschlagen kann.

Viele Erkenntnisse der Polyvagaltheorie bestätigen, was uns
aus der Praxis der Körpertherapien und insbesondere der Atemtherapie vertraut
ist. Und es ist faszinierend, wie die Wissenschaft diesen praktischen
Einsichten eine solide Basis und Erklärung geben kann. Ein weiterer Schritt zum
Zusammenwachsen der wissenschaftlichen Forschung und der therapeutischen Praxis
ist getan – besonders auch deshalb, weil Porges hofft, durch seine Forschungen
beizutragen, dass viele der Störungen, die direkt durch eine Fehlfunktion des
vegetativen Nervensystems hervorgerufen sind, ohne Medikamente, sondern nur mit
Hilfe der Wiederherstellung der vagalen Selbstregulation über Methoden der
Atem- und Körperentspannung, der Musik und der nonverbalen Kommunikation
geheilt werden können:

„Wenn soziale Interaktionen als biobehaviorale Prozesse
verstanden werden, eröffnet sich die Möglichkeit, eine therapeutische
Behandlung ohne Psychopharmaka zu entwickeln, die auf die positive Wirkung
sozialer Interaktionen und interpersonalen Verhaltens bei der neuronalen
Regulation des körperlichen Zustandes und des Verhaltens vertraut. Durch
Erforschung biobehavioraler Prozesse bidirektionaler Beeinflussung von Körper und
Psyche könnten psychotherapeutische Behandlungen die neuronale Regulation des
physiologischen Zustandes verändern und so die Wirkung weiterer positiver
Aspekte interpersonaler Interaktionen unterstützen.“ (Porges, 285)

Das Gespräch, ob personzentriert, gestalttherapeutisch oder
analytisch, für so lange Zeit das Hauptvehikel der Psychotherapie, können wir
als effektives Mittel zur Lösung von tiefliegenden Störungen ganz weit hinten
anstellen. Denn Menschen sind in den Fällen von schweren Beeinträchtigungen ihrer
inneren Stabilität erst dann in der Lage, sinnvolle Gespräche zu führen, wenn
sich ihr vegetatives Nervensystem gut einreguliert hat. Das zeigt sich unter
anderem daran, dass der Atem entspannt ein- und ausströmt. Die Klienten müssen
also zuerst auf einer tiefen, durch die verbale Sprache nicht erreichbaren
Ebene, gewissermaßen in ihren Eingeweiden, zur Ruhe kommen und zu dieser
Entspannung immer wieder zurückfinden können. Wenn sich diese Strategien der
Stressbewältigung und des Vertrauens auf der vegetativen Ebene aufgebaut und
gefestigt haben, können wir überhaupt erst mit therapeutischen Gesprächen heilsame
Veränderungen erzielen.

„Die Polyvagal-Theorie empfiehlt Klinikern, atypische
Verhaltensweisen und physiologische Reaktionen ihrer Klienten als adaptiv zu
deuten. Aufgrund ihrer Struktur wird sie das Verständnis all dessen fördern,
was das sozialen Verhalten und die Gesundheit von Menschen unterstützt.“
(Porges, 305)

Literatur: Stephen W. Porges: Die Polyvagal-Theorie.
Neurophysiologische Grundlagen der Therapie. Paderborn: Junfermann 2010

Text: Wilfried Ehrmann